Der Inselkoller

78Wenn die kanarische Sonne allzu lange auf eingewanderte Teutonenbirnen herniederbrennt, dann fangen diese eines Tages an, irgendwie ganz merkwürdig zu ticken. Die einen nennen es dann den „Schuss“, die anderen eine „Vollmeise“, wieder andere reden von „offener Therapie“, die sich in Residentenkreisen angeblich allenthalben einer gro-ßen Beliebtheit erfreut. Fest jedenfalls scheint zu stehen, dass der Deutsch-Gomerianer als solcher nur dann auf der Insel über einen längeren Zeitraum hinweg fröhlich und sorgenfrei überleben kann, wenn er sich rechtzeitig solch eine gewaltige Macke zulegt. Nur so fällt er in der Gemeinschaft der Beknackten nicht unangenehm auf. „Normal“ auf Gomera geht nun mal auf Dauer einfach nicht. Allenfalls „voll normal“, was aber eine Diskriminierung ist, die relativ kurz vor “Vollpfosten” kommt. Und dennoch befällt auch den aus-reichend behämmerten Residenten bzw die geistig zurückgebildete Residentin immer wieder eine merkwürdige Krankheit, die ihm bzw ihr das sorgenfreie Dasein im Bananenparadies verleidet: Der Inselkoller.
Wenn ihn der Inselkoller packt, dann muss selbst der durchgeknallteste Resident weg von der Insel. Sofort. Egal wie. Sonst dreht er nämlich durch. Jedoch scheint der Inselkoller auf Gomera ein vorwiegend weibliches Phänomen zu sein. Ob es mit den Wechseljahren zu tun hat, weiß man nicht. Ist aber recht unwahrscheinlich, denn der Inselkoller befällt schließlich auch Frauen, die kaum der Pubertät entwachsen und so vom Klimakterium noch meilenweit entfernt sind. Es gibt zwar Ähnliches auch bei Männern, aber bei denen redet man dann meist nicht vom Insel- sondern vom Samenkoller. Dafür muss man dann nicht gleich weg von der Insel. Meist genügt das Schönsaufen einer Vollmondfee am Strand der Schweinebucht. Davon ist man dann am nächsten Morgen gleich wieder aber so was von geheilt, dass man es gut ein weiteres halbes Jahr ohne Arztbesuch, Meditation, Reiki oder Medikamente aushält.
Der Inselkoller befällt also – wie bereits gesagt – vor allem Frauen. Die müssen von Zeit zu Zeit “einfach mal weg von der Insel”. Zurück in die „Zivilisation“. In die Großstadt. Mutti besuchen. Grünkohl mit Pinkel oder Heringsstipp essen. Mal wieder shoppen. Zum Friseur. Schuhe kaufen. In Fußgängerzonen rumrennen. Durch die Boutiquen hetzen und Klamotten anprobieren. Discotheken oder den Wendler besuchen.
Meist fallen dann auch Begriffe wie “Kultur”, “Oper”, “Theater” und so, aber kaum eine Insel-flüchtige geht dann wirklich dort hin. Sie redet nur vorher viel und vollmundig davon, damit ihr Inselkoller einem anderen, einem kulturell bzw intellektuell gehobeneren Motiv zugeschrieben werden kann. Als gebildete Frau hat man ja schließlich auch kulturelle Interessen, oder was? Ist natürlich alles pille-palle, und jeder weiß das.
Meist kommen die Kollerflüchtigen dann nach einer oder zwei Wochen völlig kaputt wieder auf Gomera an und schwören: „Nie wieder!“, was aber je nach Temperament nur ein paar Monate oder allerhöchstens ein Jahr lang anhält. Spätestens dann schlägt er ohne Vorwarnung wieder zu, der Inselkoller.
In der Kalten Heimat scheint es ein ähnliches Phänomen zu geben. Dort heißt es aber nicht Inselkoller, sondern „Reif für die Insel“. Da wird dann vom Stress am Arbeitsplatz geplappert, vom „Burnout-Syndrom“, vom Vitamin-E-Mangel oder schlichtweg nur vom Wetter, das in Deutschland doch kein normaler Mensch auf Dauer aushalten kann.
Die Befallenen pfeifen auf Trombose, quetschen sich in den Billigflieger und klatschen begeistert mit, wenn sie endlich auf Teneriffa gelandet sind.
Aber weil es ihnen dort vorkommt wie in Hamburg (bloß nicht so kalt), fühlen sie sich erst dann wieder richtig wohl, wenn sie zum Schall der Kacktustrommel an der Playa Maria die Sonne untergehen sehen. Endlich wieder da. Endlich geheilt. Endlich wieder angekommen auf der Insel der Glückseligen. Endlich mal wieder unter “richtigen” Menschen, die einen verstehen und mit denen man wieder “vernünftig” reden kann Beide, die gomerianische Inselkollerkranke wie die Hamburger Burnoutpatientin sind dann spätestens nach zwei Wochen oder so stets von ihren Leiden weitestgehend erlöst.
Dann liegt die Deutsch-Gomerianerin wieder voll entspannt an der Playa Ingles und kann gar nicht verstehen, wie man in der Kalten Heimat überhaupt leben kann; die Hamburgerin sitzt in ihrem zentralbeheizten Büro an der Alster und freut sich schon auf die Abendeinladung zum Sushi, zu der sie unbedingt ihre neuen Schuhe anzuziehen gedenkt.  Und sie freut sich natürlich auch schon wieder auf ihren nächsten Gomera-Urlaub.